BRIEF VON CARL ALBERT LOOSLI AUS DEM ALL

18.07.2019 16:56

Sehr geehrter Herr Devecchi

Dank meinem alten Freund Uli Zürrer und den seit kurzem auch im All operierenden Unternehmen Amazon und DHL,  bin ich in den Besitz Ihres Buches „Heimweh – Vom  Heimbub zum Heimleiter“ gelangt. Einerseits habe ich mich über Ihr Werk sehr gefreut, anderseits war ich traurig, weil meine eigene Kritik am Schweizerischen Heim- und  Anstaltswesen offensichtlich doch nur eine beschränkt nachhaltige Wirkung erzielt hat. Im Vergleich zu meiner eigenen Heim- und Anstaltszeit  stelle ich in Ihrem Fall fest, dass die Verfehlungen der Behörden und der Heime (mit dem dubiosen Namen „Gott hilft“) subtiler und dadurch besonders hinterhältig waren. Dazu liefen sie stets mit frommen Deckmäntelchen kaschiert einher. Ihre sachlich gehaltenen Schilderungen über die erlebten Entbehrungen, Vernachlässigungen, Übergriffe und Kränkungen in den Kindheits- und Jugendjahren schreien zum Himmel! Dabei wird aber auch spürbar, wie Sie sich einen feinen Zugang zur kindlichen Seele und zu den besonderen Bedürfnissen junger Menschen bis heute bewahrt haben. 

Das Kapitel mit der Überschrift „Kurzes Familienglück“ hat mich ganz besonders berührt: Die Pflege Ihrer schwer kranken Ehefrau, der allein erziehende Vater von  zwei adoleszenten Söhnen und gleichzeitig die Leitung einer Institution – da wird man nachdenklich.  

 

Sie sind selber Jugendheimleiter geworden. Da wurde ich für einen Moment skeptisch, konnte aber schliesslich Ihre Überlegungen zur Motivation für diesen Beruf gut nachvollziehen. Ich fragte mich jedoch, war es Zufall oder nicht, dass Sie sich in Ihrer langjährigen Führungspraxis stets mit schwierigen Jugendlichen befassten und nicht etwa die Leitung eines Kinderheims übernahmen? Vielleicht deswegen: Kinder sind noch mehr von Erwachsenen abhängig als Jugendliche. Das haben Sie an Leib und Seele schmerzlich erfahren müssen.

 

Ihr Buch ist zweifelsfrei ein wichtiges Zeitdokument zur Sozialgeschichte der Schweiz. Mit der Chronologie ab Seite 166 wird dies gekonnt verdeutlicht und das Geschehene in einen grösseren Zusammenhang gestellt; ein ganz besonderes Verdienst Ihrer Arbeit. Damit das Buch nicht Gefahr läuft, als blosse Alibifunktion in den Bibliotheken der Kinder- und Jugendheimen zu versinken, sollte der Verband INTEGRAS nur noch Institutionen als Mitglied akzeptieren, die im Jahreskalender immer am 2. Oktober einen „Sergio-Tag“ (nicht einen weich gespülten Serscho-Tag!) vorsehen und durchführen, der sich an folgenden drei Punkten zu orientieren hätte:  

 

1.       Es findet ein Rollenwechsel zwischen den Mitarbeitenden und Kindern bzw. Jugendlichen statt. 

2.       Alle leitenden Mitarbeitenden werden von den Kindern/Jugendlichen qualifiziert.

3.       Die Verbandsleitung erhält einen Bericht über die Durchführung des Sergio-Tages.

 

Zum Schluss: Ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem aufwändigen Werk! Es ist weit mehr als „nur“ eine Biographie, es  ist auch ein spannendes Fachbuch – davon gibt es nur ganz wenige: Für Einsteiger ist es eine Pflichtlektüre, für aktive Sozis und Altgediente (wieder mal reflektieren!) sehr zu empfehlen, refreshing sagt man heute auf neudeutsch, „naachedäiche uf Bärndütsch“! 

 

Ihnen wünsche ich herzlich alles Gute und sende liebe Grüsse, 

 

Ihr Carl Albert Loosli (wohlauf und munter im Weltall)