Fassade! Rede gehalten am Sommerfest des Sozialpädagogischen Zentrum Hirslanden, anlässlich der Einweihung der neuen Fassade!

04.07.2010 17:00

Fassade

Ich kann einfach schwerlich NEIN sagen. Und so konnte ich auch nicht NEIN sagen, als mich Heidi Bühler fragte, ob ich am heutigen Fassadenfest etwas über das Thema „Fassade“ erzählen könnte.

FASSADE: Zuerst einmal galt es, mich durch das Web zu Googeln. Doch oh Schreck! Zum Stichwort Fassade erhielt ich über 2 Millionen Web-Adressen. Wie um Himmels Willen soll ich mich da in diesem Gewirr von Vorschlägen finden?

Nach etlichen schlaflosen Nächten, in denen in meinem Kopf das Wort „Fassade“ in allen Varianten herumturnte, entschied ich mich für einen Spaziergang durch die Stadt. Ich schaute Fassaden an. Alte, neue, geschwungene, rechteckige, schlanke, verwahrloste, hohe, gläserne, bröckelnde, besprayte, verschmutzte, elegante, belebte, tote, geschmückte und gewöhnliche Fassaden.  Und da entschied ich mich, das Thema mit folgenden Stichworten einzugrenzen:

  • Architektur
  • Verzweifelte Hausfrauen
  • Wenn der Dom gebaut ist geht die Welt unter
  • Carl Albert Loosli 

 

Stichwort Architektur: Ist es nicht so, dass die meisten Architekten sehr darauf schauen, dem Gebäude das sie bauen eine schöne Fassade zu verpassen. Schliesslich ist das ihre Visitenkarte. Gebäude mit sehr praktischem Inhalt wie das Feuerwehrgebäude in Olten, das SBB-Stellwerk in Basel, der Friedhofseingang in Chur  und viele mehr sind eingepackt in architektonisch ansprechende Hüllen die zum Verweilen einladen. Denken Sie nur an die Granitfassade des Thermalbades Vals.  Ich war bei der Betrachtung dieses Bauwerker so entzückt, dass ich es fast verpasste das zu tun, wofür ich eigentlich angereist bin; nämlich Baden. Die Fassade ist der erste Eindruck eines Gebäudes. Fassade ist also immer auch Kommunikation. Eine Fassade will abstossend sein wie die eines Bunkers, weil dort Fremde nicht gerne gesehen werden, oder einladend, wie die Fassade einer Bank, weil man ja Kunden anziehen möchte. Fassaden sind also auch immer Werbeträger und Botschafter die den Zweck des Gebäudes wiedergeben sollen. Denken sie nur an das Vogelnest in Peking, das neue Olympiastadion gebaut von Herzog und Demeron. Das Vogelnest als Chinesisches Symbol für Geborgenheit. Die Architekten haben es hervorragend verstanden, die Architektur mit der Kultur des Landes zu verknüpfen. Das war auch mit ein Grund, weshalb sie den Wettbewerb gewonnen haben. Und zum Stichwort Architektur noch eine kleine kuriose Geschichte: Ein amerikanischer Architekt, mit Namen James Kessler erhielt den Auftrag ein Gefängnis zu bauen. Natürlich dachte er sofort an eine ansprechende Fassade die seine architektonische Handschrift zeigen soll. Bis ihm die Bauherrschaft die Masse durchgab: Kein Fenster darf breiter als der Schädel sein! Oh weh! Doch er schaffte es dennoch, dem Gefängnis eine schöne Fassade zu verpassen. Es steht heute in New Jersey. Doch schöne Fassaden nützen nichts, wenn das Gebäude nicht auf festem Grund mit solidem Fundament gebaut und mit einem Wetterfesten Dach versehen ist. Diese Metapher ist durchaus auch auf die Menschheit übertragen. Und so komme ich zum zweiten Stichwort:

 

Die verzweifelten Hausfrauen (Desperate Housewives):

Wer kennt sie nicht, die vier schönen, langbeinigen, schlanken in ihren schönen Villen umgeben von schönem Grün inmitten von schönem Himmelblau mit schönen grossen Autos und umschwärmt von schönen muskulösen Männern. Sie liegen an Pools, trinken perlgoldener Champagner und scheinen alle glücklich zu sein. Eine wunderschöne Fassade. Ja, wir alle und besonders die Jungen werden Fassadegetrimmt, wollen wir in dieser Gesellschaft weiterkommen. Das heisst, auf das Image kommt es an. Der erste Eindruck zählt! Das Auge wählt mit. Man sagt ja, dass die erste 30 Sekunden entscheiden über Sein oder nicht Sein, über eine Arbeitsstelle oder keine Arbeitsstelle. Gerade in einer Zeit, wo der Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt riesengross ist, ist es empfehlenswert, der persönlichen Fassade Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt Beratungsfirmen wie Sand am Meer die viel Geld damit verdienen, des Menschen Fassade aufzupolieren, und damit dem Ratsuchenden  Erfolg und Glück versprechen. Wer war es, der schon 1874 die Erkenntnis hatte, dass Kleider Leute machen? Richtig: Gottfried Keller! Schein ist also auch Sein, oder? Doch achtung! Wie sagt es doch der Volksmund:

Nicht alles was glänzt ist Gold!

Wo Licht ist, ist auch schatten!

Und so erleben auch die langbeinigen schönen an ihren Pools schnell einmal, dass das Leben nicht nur cool und schön ist. Hinter der glänzenden Fassade wird auch betrogen, belogen, geweint und gehasst, so wie eben das Leben spielt. Ich habe die Sequenz noch vor mir, wie ein Erdbeben die Träume der vier verzweifelten Hausfrauen im nu zerstört hat und wie sich die vier schönen mühsam und mit aller Kraft wieder ins Leben zurück kämpfen mussten. Die Fassade war eingebrochen und zum Vorschein kamen echten Gefühle der Trauer, der Ohnmacht, aber auch der Nächstenliebe.

Doch eben: Die schöne Fassade kaschiert die Tatsache, dass Traditionen und Wertvorstellungen langsam ihren Sinn verlieren, weil sie der sich rasant veränderten Welt nicht mehr gerecht werden und folglich nicht mehr verinnerlicht werden können. Die schöne heile Welt des bürgerlichen Lebensideals wird als grosser Selbstbetrug entlarvt, die Moral des Systems als Potemkinsches Dorf erkannt, hinter dessen Fassade sich Selbstsucht, Profitstreben, Konsumwahn, Egoismen aller Art ein Stelldichein geben. Die meisten machen mit, weil es so bequem ist und man durch Anpassung die Chance hat, eine Existenz aufzubauen und am Wohlstand zu partizipieren. Und wer will uns das verübeln?

Wenn der Dom fertig gebaut ist geht die Welt unter!

Seit 750 Jahren baut Köln an seinem Dom. Fertig wird er nie. Und das ist gut so. Denn sonst droht auch der Welt das Ende. Sagt jedenfalls der Volksmund. Was bei alten Gebäuden in der Regel weit auseinander liegt: Die Zeit der Entstehung und die des Verfalls fällt beim Kölner Dom zusammen. Während man an seiner Fassade weiterbaut, renoviert und restauriert, verwittern Steine, zerbrechen Figuren und zerfallen Türmchen. Hier ist die gewaltige Fassade nicht nur Symbol von Macht und Herrschaft sondern auch von Zerbrechlichkeit, Schwäche und Brüchigkeit. Geht es nicht auch uns Menschen so? Immerfort arbeiten wir daran, unserer Endlichkeit ein Schnippchen zu schlagen. Wir halten uns fit und streben nach Glück und Macht. Wir restaurieren uns fortwährend, (Gesundheitsindustrie sei Dank) und hoffen so, dem Zahn der Zeit, der unaufhörlich an uns nagt zu entkommen. Wir streben in die Höhe (neu auch in Zürich), unaufhaltsam und immer schneller, als hätten wir Angst, die Welt würde sonst untergehen. Wird sie eines Tages untergehen? Solange am Kölner Dom gebaut wird wohl nicht…..

 

Carl Albert Loosli

Mit diesem Stichwort schwenke ich ein in den Hafen der Sozialpädagogik.

A pro pos. Sozialpädagogik: Sozialpädagogik heisst nichts anderes als „hinter die Fassade schauen“. Wenn es einer konsequent getan hat, dann Carl Albert Loosli.

 

„Ich brauche nichts umzulügen, nichts zu verbergen – ich darf alles, die volle Wahrheit sagen, weil ich nichts zu verlieren, folglich auch nichts zu fürchten habe“.

Doch, weshalb Loosli zum Thema Fassade?

Er hat in seinem schriftstellerischen Schaffen viel über Heime und Heimerziehung geschrieben.  Eine Passage, die sehr viel mit Fassade zu tun hat möchte ich Euch nicht vorenthalten:

 

„Ein rein äußerlicher Eindruck: Ein schöner, sonniger Sommertag. Wir streifen durch die Landschaft, durch arbeitsfrohe Bauerndörfer und freuen uns der Sonne, des Gedeihens, der bäuerlichen Arbeit, des Standes der Kulturen. Überall erblicken wir Leute in Feld und Garten. Alles regt sich, alles arbeitet, werkst, alles ist hoffungsfroh, friedlich, emsig. In gehobener Stimmung marschieren wir durch drei, vier Ortschaften, eigentlich ziellos; es kommt ja nicht darauf an, wohin, sondern, dass wir marschieren. Eine Viertelsunde davon zweigt eine ansehnliche Fahrstrasse von der breiten Landstrasse ab; wir überschauen sie eines Blickes. Sie führt zu einem stattlichen Gehödte, an diesem vorüber und im Hintergrund, dem Hügelzug entlang, winkt grünender schattiger Wald. Sei’s drum! Biegen wir ein, verfolgen wir den nie begangenen Weg! Wir gehen einige Minuten und geraten in ein grosses Gut. Es ist vom Dorfe mehr als eine gute Viertelstunde entfernt, für sich abgeschlossen, jeder unmittelbaren Beobachtung entzogen. Da liegt es, für sich, als ob ihm Fremde unerwünscht wären, als ob es keiner Zeugen seines Daseins bedürfe. Seine Ausdehnung alleine lässt ahnen, dass es sich selbst genügt, dass es für sich sein will. Seine Lage, etwa auch noch besondere, sonst nicht gerade übliche Einzäunung oder Marchmauern bezeugen es (...) Alles atmet Stille. Auffällig ist eine reinliche, aufdringliche, beinahe verdächtige Ordnung allenthalben. Alles grünt, alles wächst und trotzdem, etwas lagert darüber wie verhaltene, befremdliche Kälte (...) Es wäre schwer zu sagen, woran das liegt.  An hundert, an sich kaum bemerkbaren Einzelheiten, deren Summe die Stimmung bedingt (...) Da ist etwa eine Hofstatt junger Obstbäume (...) Alle sind wohl gepflegt. Ein rascher Blick belehrt uns, dass jeder genau wie der andere geschnitten, geputzt und behandelt wird (...) Da eine Gemüsepflanzung! Die einzelnen Felder sind durch schnurgerade Wege voneinander geschieden. Bohnen! (...) Das alles sieht aus, als wäre es wissenschaftlich geregelt, ausgerechnet, dosiert. Alle steht wohl; man erkennt, es wird zum Rechten gesehen; alles gedeiht normal und doch ist da etwas starres, Kaltes, Gezwungenes, Gepresstes (...) Die Pflanzungen sind wie gedrillt, sie lassen keine malerischen, ablenkenden Zufälligkeiten aufkommen. Das wirkt zunächst  befremdend, dann beklemmend (...) Ein Musterbetrieb also? So scheint’s! Die befremdliche Beklommenheit wächst, noch ehe man einen Menschen, noch ehe einen Hofhund erblickt. Endlich Menschen! Dort, in jener Pflanzung, ein halbes Dutzend oder mehr gleichgekleideter Buben, mit Jäten beschäftigt. Ein junger, halb bäurischer, halb städtischer Mann leitet sie an (...) Man vernimmt keine Unterhaltung, nur ab und zu unterdrückte Gesprächsfetzen – ein scheues Gewisper. Der junge Mann allein spricht laut und klar, schneidend und bestimmt. Man errät den Lehrer. Wir gehen an der Gruppe vorbei und grüssen. Der Gruss wird wie auf Befehl, von sämtlichen Knaben mit gleichmässig erhobenen Stimmen erwidert. Man fühlt, sie tun es, weil sie es müssen, weil man es ihnen einbläute. Der Lehrer hat auch gegrüsst, aber die Zigarre dabei nicht aus dem Mund genommen (...) Was ist das für ein Hof? Ein Herrschaftsgut? Ist nicht so starr! Ein Kloster? Vielleicht, aber ein Kloster ohne die Romantik des Klosters. Es ist eine Erziehungsanstalt!" 

 

Lossli war ein sehr guter Beobachter, ein denkender Zeitgenosse  der hinter die Fassaden schaute und sich nicht zu schade fand, Missstände anzuprangern, wenn es den Betroffenen half.  

Was würde Lossli schreiben, nach einem Spaziergang entlang der Witellikerstrasse,  beim Anblick der Fassade des Sozialpädagogischen Zentrums? Er würde sich wohl fragen, wie das liebliche Gelb zustande kam und warum. Er würde sich weiter fragen, was sich hinter dieser Fassade für ein Leben abspielt und er würde, gwundrig wie er war,  sicher eintreten wollen.

Heute sind die Türen des Sozialpädagogischen Zentrums weit offen. Denn die Fassade ist nicht abweisend. Sie wirkt Gastfreundlich und lädt zum verweilen ein. Wir haben heute die Möglichkeit, Bewohnerinnen und Mitarbeitende kennen zu lernen und mit ihnen zu reden. Und das ist gut so. Denn je besser wir Bescheid wissen über die Arbeit die hinter dieser Fassade geleistet wird, desto besser verstehen wir und desto besser können wir, die wir im Alltag außerhalb der Fassade stehen, unseren Beitrag zur Integration der jungen Frauen leisten.      

Eine gute Fassade, eine Fassade die Sinn macht, eine schöne Fassade wird getragen von einem standhaften Fundament und einem wettertüchtigen Dach. Eine  solche Fassade weihen wir heute ein mit diesem Fest und dem Tag der offenen Tür. Ich danke allen, die zu dieser schönen Arbeit beigetragen haben und wünsche dem sozialpädagogischen Zentrum und den Menschen die darin wohnen und arbeiten dass dieses Haus ihnen Schutz und Geborgenheit geben kann.