Nähe und Partizipation im Heim; die Quadratur des Kreises? Szenen eines Heimlebens. Referat, gehalten in Brunnen, an der Fortbildungstagung von Integras.

01.11.2011 10:30


Liebe Kolleginnen und Kollegen

 

Es freut mich ausserordentlich, dass ich vor so hochkarätigem Fachpublikum sprechen darf und erst noch zu einem Thema, das mich Zeit meines Lebens beschäftigt hat. Nämlich zur Frage, ob ein Heimkind, das von Trennungen und Entwurzelungen geprägt wurde, die wohlmeinende Fremderziehung anzunehmen im Stande ist, oder umgekehrt, ob die Heimerziehung in der Lage ist, dem Kind die Nähe  zu geben, das es braucht um geborgen und mit Zuversichtlichem Vertrauen aufwachsen zu können?  

 

Wird in den Heimen Nähe und Partizipation wirklich gelebt?

 

Ich rede heute zu ihnen als „Opfer“ und als „Täter“. 60 Jahre meines Leben waren geprägt von der Heimerziehung. 18 Jahre davon als Kind und Jugendlicher in Heimen und den Rest als Erzieher, Teamleiter und Heimleiter. Vor zwei Jahren bin ich definitiv aus dem Heim „entlassen“ worden.

 

„Partizipation“ und „Nähe“, das sind Begriffe die berühmte Exponenten der Pädagogik schon im letzten, vorletzten und im vor-vorletzten Jahrhundert lebten. Denken wir nur an Pestalozzi!

 

Zum Bild: Es drückt Nähe aus, Aufopferung, Not, aber auch Schutz und Geborgenheit. Hier handelte jemand (Pestalozzi), der Überzeugt war von seiner Mission und der die Kinder liebte. Sein „Heim-Konzept“ war einfach, aber durchdringend und klar:

 

Kopf, Hand und Herz (Bildung, Arbeit und Gemüt)

 

Auch sagte Pestalozzi, die Nähe zu den Kindern nicht treffender formulierend:

„Wenn das Kind weint, weine mit ihm. Wenn das Kind lacht, lache mit ihm“.

 

Heimszene:

Wie wahr dieser Satz doch ist. Ich kann mich noch gut an eine Begebenheit erinnern, damals im Heim, als siebenjähriger Knabe. Weinen war verboten und lachen meistens auch, denn es wurde ernsthaft und fromm durchs Leben geschritten. Als sich eines Tages eine Mitarbeiterin, eine Tante, wie wir das Personal damals nannten, die ich gut mochte, verabschiedete, verfiel ich in einen Weinkrampf, heulte und jammerte was das Zeugs hielt und war sehr traurig. Da kam diese Tante, Hulda hiess sie, zu mir ins Zimmer, nahm mich in die Arme, weinte mit mir und überreichte mir zum Abschied eine fruchtige Orange. Diese Nähe, diese Echtheit tat mir gut. Ich fand Trost und Ruhe.

 

Eindrücklich auch, wie der Polnische Pädagoge Janusz Korczak im letzten Jahrhundert Nähe zu seinen Kindern lebte und Partizipation wörtlich nahm:

 

1918 – also, über achtzig Jahre vor der Uno-Kinderrechtskonvention, formulierte Korczak drei Grundrechte des Kindes

  • Das Recht des Kindes auf den Tod
  • Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
  • Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist.

 

Das erste, bewusst provozierende Recht, wendet sich gegen eine allzu beschützende und bevormundende Haltung gegenüber dem Kind. Aus Furcht, der Tod könne uns das Kind entreissen, entreissen wir das Kind dem Leben. Er spricht damit die Überbehütung an, die Tendenz zur totalen Kontrolle der Erziehenden über das Kind.

Von diesem Respekt vor dem Leben, der auch die Möglichkeit des Todes akzeptiert, ist auch das zweite Recht getragen. Erziehung darf nicht nur und immer auf die Zukunft ausgerichtet sein, sondern muss auch die Gegenwart, in der das Kind in erster Linie lebt, ernst nehmen.   

 

Und dann muss auch die Persönlichkeit des Kindes akzeptiert werden. Kinder und Jugendliche sind Menschen mit einem eigenen Charakter, der nicht einfach manipuliert werden darf. Auch nicht „motipuliert“.

 

Nähe demonstrierte und lebte Korczak eindrücklich, in dem er die Kinder seines Waisenhauses sehenden Auges in die Gaskammer von Treblinka begleitet hat. Für ihn war sein eigenes Leben und sterben selbstverständlich untrennbar mit seinen Kindern verbunden. Ein wahrlich mutiger und innovativer Denker, dessen pädagogischen Prinzipien gerade heute erstaunliche Aktualität zukommt. Korczak war überzeugt, dass man Kinder nur erziehen könne, wenn man sie liebe

 

Sein 4-Bändiges Hauptwerk trägt deshalb den ambitösen Titel:

Wie man ein Kind lieben soll!

 

Und dann ist da noch ein weiterer Pädagoge, der das Prinzip der Partizipation im Alltag konsequent lebte und dessen innovative Pädagogischen Prinzipien weit über Russland hinaus bekannt wurden:

 

Anton Semjonowitsch Makarenko.

 

Als Leiter der Gorki-Kolonie hatte es Makarenko mit verwahrlosten Jugendlichen zu tun. Diebe, Bandenmitlgieder, Kinderprostituierte usw. Seine Erziehungsmethoden gründeten auf den Theorien von Heinrich Pestalozzi, Jean-Jacques Rousseau und anderer humanistischer Denker. Er verfolgte eine Erziehung ohne die Gewalt der Prügelstrafe (was damals revolutionär war), ohne hierarchische Autorität (was damals ebenfalls revolutionär war) und auf einer Einheit von Selbstverwaltung, Disziplin und nützlicher Arbeit. Seine und die seiner Mitarbeiter Autorität beruhte auf der Achtung vor dem Jugendlichen, der absoluten Aufrichtigkeit gegenüber den Jugendlichen und auf festem Vertrauen in den Menschen. „Fordern und achten“ ist eines seiner grossen Werke, in welchem er die Prinzipien der kollektiven Selbstverwaltung in der Gorki-Kolonie beschrieb und aufzeigte, was an Erziehung möglich ist, wenn betroffene in ihren Erziehungsprozess miteinbezogen sind.

Interessant, wie die russische Fachwelt der Kinder und Jugendhilfe Makarenko heute noch verehrt, verherrlicht und verklärt, obwohl Makarenko, würde er die heutigen russischen Jugendkolonien sehen, vom heiligen Zorn erfasst würde. Nichts von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung, wie damals in der Gorki-Kolonie. Militärischer Drill, Bewachung mit Waffen und Hunden und Uniformen prägen noch immer weitgehend den Alltag.

 

Warum ich von diesen drei grossen Pädagogen vergangener Zeiten erzähle, heute, wo doch alles anders ist? Ja, kann und darf man überhaupt Vergleiche anstellen über das wie der Fremderziehung, einer Fremderziehung, die seit dem tiefen Mittelalter bis in die heutige moderne Zeit hinein in unterschiedlichsten Formen und mit unterschiedlichsten Haltungen praktiziert wurde und wird?

 

Man darf! Denn nur wer die Geschichte kennt und begreift, begreift auch das Hier und Jetzt! Denn nicht alles was war, war schlecht, und nicht alles was ist, ist gut!

 

Pestalozzi, Korczak und Makarenko hatten einiges gemeinsam. Die Leidenschaft und die Barmherzigkeit für benachteiligte, verstossene, verwahrloste und kriminelle Kinder und Jugendliche. Gemeinsam war ihnen der Wille, diesen Kindern und Jugendlichen Erziehung und Bildung angedeihen zu lassen und gemeinsam war ihnen auch, dass sie ihre Arbeit in grosser Demut und grosser Armut leisteten. Von Finanzen und ökonomischen Zusammenhängen verstanden sie wenig.  Alle drei waren vom Grundsatz geleitet, dass nur ein sicheres Fundament von Elementarbildung, die Kinder und Jugendlichen dazu befähigen, sich selber zu helfen und dass Erziehung am meisten Sinn macht, wenn die Kinder und Jugendlichen in den Prozess der Erziehungsarbeit miteinbezogen sind. Sie haben in einem schwierigen gesellschaftlichen Umfeld neues gewagt. Sie sind gegen den Strom geschwommen und sie haben sich anwaltschaftlich auf die Seite ihrer Kinder und Jugendlichen gestellt, mit allen Konsequenzen; siehe Korczak! Sie haben Partizipation und Nähe gelebt, aus innerer Überzeugung und nicht, weil behördlich vorgeschrieben.

 

Und heute? Wo stehen wir diesbezüglich?

 

Nehmen wir das Heimkind. Es unterscheidet sich optisch vom Familienkind kaum noch. Nicht wie früher, vor 30, 40, 50 und 60 Jahren. Da trug das Heimkind geschenkte Kleider, fest im Stoff zwar, grobes Schuhwerk und wochentags Arbeitskleider. Es roch meistens nach Mist und Gülle! Man sah ihm von Weitem sein trauriges Schicksaal an.

 

Hier ein Exemplar aus der damaligen Zeit. Das bin ich, 6, 7, oder achtjährig vielleicht, mein einziges Foto als Kind. Ich weiss nicht, wer das Bild geschossen hat, noch wo es aufgenommen wurde. Heimkinder wurden selten fotografiert, warum auch?

 

Heute wird das Heimkind gleichberechtigt beschult, geht ins Ballet oder reitet Pferde. Es besucht, wenn Bub, vielleicht einen Kampfsport oder spielt Fussball. Das Heimkind kennt sich in der Musikszene aus, streamt Titel auf den IPod und bearbeitet mit aller Selbstverständlichkeit sein eigenes Profil auf Facebook. Will heissen, das Heimkind ist emanzipiert. Es trägt kein sichtbares Stigma mehr und das ist gut so.

 

Doch eine Gemeinsamkeit mit dem früheren Heimkind bleibt. Denn lassen wir uns von Äusserlichkeiten nicht blenden und täuschen. Das Heimkind leidet immer darunter, dass es kein Familienkind sein darf. Es fühlt sich minderwertig und schuldig. Das Heimkind ersehnt sich immer Mutter und Vater an seine Seite, es träumt vom Familienglück und hofft, dass sich dieser Traum eines Tages wieder einstellen möge. Das Heimkind trägt unsichtbare Narben von Verletzungen in sich, verursacht durch ungewollte Trennungen, Entwurzelungen und Enttäuschungen. Es wird fortwährend von der Angst begleitet, das im Laufe des Lebens zaghaft aufgebaute Vertrauen zu Menschen und zu seiner Umgebung wieder zu verlieren. Das Heimkind braucht Heimat. Heimat verstanden als Orientierungshilfe und als Verlässliche Beziehungen und Erfahrungen. Und das Heimkind braucht Nähe, auch wenn es diese Nähe nicht immer zulassen kann.

 

Ich erinnere mich noch gut an meine kindliche Sehnsucht nach Familie. Immer Sonntags, wenn sich der Heimvater und die Heimmutter nach dem Mittagessen mit ihren 4 leiblichen Söhnen in die Familienstube zurückzogen, uns Heimkinder draussen lassend, versammelten wir uns vor der Stubentüre, horchten auf das, was Familie redete und spähten durch das Schlüsselloch, einer nach dem anderen, immer wieder. Da sass der jüngste auf dem Schoss der Mutter. Da legte der Vater dem Ältesten den Arm auf die Schulter, während die beiden Mittleren am Boden spielten. Nähe, eben und Geborgenheit!

 

Und die Heime? Auch sie haben einen grossen Wandel durchgemacht. Sie stehen (wie früher) meist an schönen Orten, weisen eine moderne Architektur auf, sind funktional und gemütlich eingerichtet. Die meisten Heime sind nicht mehr durch Mauern von der Gesellschaft getrennt. Die Landwirtschaft ist an vielen Orten der Reittherapie gewichen und der Kartoffelacker dem Sportplatz. Sie gleichen fast ein wenig Kurhäusern oder Ferienanlagen, mit Schwimmbad, Turnhalle und weiterem Luxus.

 

Das Personal in den Heimen ist gut ausgebildet und der Heimleiter, bzw. der Gesamtleiter (wie er sich heute zu nennen pflegt) noch besser. Denn er verfügt zusätzlich über Managerqualitäten die es ihm ermöglichen, die Finanzen unter Kontrolle zu halten und das Personal adäquat zu führen. Es werden Erziehungspläne geschrieben, Konzepte formuliert, Dienstpläne erstellt und das alles auf dem Computer. Man ist vernetzt! Ein jedes Heim verfügt über ein Rahmen- und Feinkonzept, welche in regelmässigen Abständen von Kontrolleuren des Staates auf ihre Praxistauglichkeit hin überprüft werden. Die Pädagogik ist Konfrontativ, Rückfallpräventiv, Kompetenz- und Deliktorientiert und da und dort vielleicht sogar Partizipativ. Man bekennt sich zu einer „wohlwollenden Macht“ dem Kind und dem Jugendlichen gegenüber. Man schätzt Risiken ein, evaluiert Prozesse und schreibt Berichte und Gutachten. Alles ist auf die Förderung der personalen und sozialen Kompetenz des Kindes und des Jugendlichen ausgerichtet mit dem Ziel, das Kind oder den Jugendlichen rehabilitiert, sozialisiert und repariert der Gesellschaft wieder zurück zu geben.

 

Die moderne Heimerziehung, die stationäre Kinder und Jugendhilfe, gleicht immer mehr einem Spital. Man diagnostiziert und behandelt. Man teilt die Kinder und Jugendlichen Bezugspersonen zu, an welche sie sich zu wenden haben, wenn Probleme und Sorgen zu besprechen sind. Doch es kann schon mal passieren, dass die gut ausgebildete Bezugsperson plötzlich weg ist, weil eine interessantere und lukrativere Stelle gelockt hat. Zurück bleibt ein ratloses Kind, ein enttäuschter Jugendlicher, der sich wohl oder übel einer neuen Bezugsperson anzupassen hat.

 

Es wird, wenn nötig, umplaziert, im schlimmsten Fall gar wegplatziert. Und weil, wegen des gut ausgebildetem Personals, die Heimerziehung immer teuerer wird und die einweisenden Behörden Mühe damit haben, droht gar ein modernes „Verdingkinderwesen“, ein Rückfall in Zeiten also, wo Kinder und Jugendliche zu Hauf bei Bauern und Pflegfamilien untergebracht wurden und wo auch heute wieder – unter dem Deckmantel der Erlebnis- und Distanzpädagogik, des Time Outs, vielleicht -  häufiger wieder Kinder und Jugendliche hingebracht werden, gegen ihre Willen, nur weil es vielleicht billiger ist.

 

Irre ich mich, wenn ich zu behaupten wage, dass wegen der vielen Energie, die als warme Luft in Folien und PowerPoint geblasen wird, und wegen dem übersteigerten „Konzeptaktionismus“, da und dort in den Heimen etwas verloren gegangen ist, oder mindestens droht, verloren zu gehen, dass da heisst „Zuwendung“, „Leidenschaft“, wenn nicht gar „Liebe?“ Irre ich mich, wenn ich behaupte, dass der Erfolg der Heimerziehung heute oftmals reduziert wird auf eine gute Belegung, auf gesunde Finanzen, aufs „schöner Wohnen“? Ich beobachte mit grosser Sorge, wie man heute auf die Heimerziehung immer häufiger nur durch das Glas des Geldes schaut.

 

Andreas Mehringer, der deutsche Sozial- und Heilpädagoge, er galt als Reformer der deutschen Heimerziehung nach 1945, erzählte folgende Begebenheit, anlässlich eines Besuches in einem Schweizerheim.

 

„Ich betrete den weitläufigen Hof und sehe Kinder spielen. Von Erwachsenen keine Spur. Auf meine Frage, wo denn die Erzieher seien, antworten die Kinder: Die sind oben im Büro und reden über uns!

 

Partizipation und Nähe sind wichtige und besonders für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe unerlässliche Begriffe. Dennoch habe ein wenig Verständnis, wenn sich Kolleginnen und Kollegen schwer tun mit diesem Begriff und Mühe bekunden, ihn im Alltag konsequent anzuwenden und umzusetzen. Ich war ja selber lange Jahre Heimleiter und weiss nur zu gut, wovon ich spreche: Von zunehmender Bürokratie, von verordneten Vorschriften und Reglementen die mit der Kernaufgabe im Heim, der Alltagserziehung, immer weniger zu tun haben. Denn gelebte Partizipation und gelebte Nähe brauchen Zeit, Geduld und eine grosse Portion Mut. Sie können nicht per Knopfdruck befohlen werden. Partizipation und Nähe gehören zusammen wie siamesische Zwillinge. Ohne Nähe zum Kind kann keine wirkliche Partizipation stattfinden kann. Denn  man versteht unter Partizipation die aktive Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungsprozessen oder an Handlungsabläufen, die im Heim stattfinden. Die Partizipation ist deshalb relevant, weil sie zum Aufbau von sozialem Kapital (gegenseitiges Kennen und Anerkennen) führt, was das Vertrauen zwischen Mitgliedern einer Gemeinschaft, also zwischen Erziehenden und zu Erziehenden) stärkt. Eine partizipative Erziehung setzt ehrliche Kommunikation voraus und das Vertrauen ins Gegenüber (dem Kind), dass das, was es sagt und vorschlägt wertvoll ist.

 

Ein Beispiel:

An einer Leiterteamsiztung wird von der Lehrerschaft und den Werkstattleitern vorgetragen, man möge die Handyregelung diskutieren und Beschlüsse fassen. Man war sich schnell einig, dass am Arbeitsplatz und in der Schule die Handys zu verbieten seien. Sollte ein Jugendlicher mit dem Handy am Arbeitsplatz oder in der Schule erwischt werden, so wird im das kostbare Gerät für 14 Tage entzogen. Abends verkündete ich den Jugendlichen die Handyregel und die Konsequenzen einer Zuwiderhandlung. Sie nahmen das Gesagte leise murrend zur Kenntnis. Es verging kein Tag und schon klingelte es in der Schreinerei. Das Handy von Roger wurde sofort eingezogen. Am darauffolgenden Freitag, ich war auf dem Sprung zum wohlverdienten freien Wochenende, stand Roger mit Tränen in den Augen vor meinem Büro. Er sei einsam, könne seine Freunde und Kollegen nicht treffen, da ihm das Handy fehle. Roger war wirklich verzweifelt. Ich begriff, dass das Handy für Jugendliche nicht nur zum telefonieren da war. Nein, es vernetzt sie, es hält die Kommunikation unter ihnen aktiv und lässt sie am Geschehen in der nahen und weiten Welt teilhaben. Ohne Handy sind sie verloren. Das hätte wir berücksichtigen müssen, bei der Sanktionsregelung und das hätten wir auch berücksichtigt, hätten wir die Jugendlichen teilhaben lassen an der Diskussion und an der Formulierung der Sanktion. Roger bekam noch am selben Freitag sein Handy zurück und ich habe viel gelernt!     

 

Kann denn wirkliche Nähe im Heim gelebt werden?

 

Kinder und Jugendliche die in Heimen leben, zeigen oft auffällige Verhaltensmuster, denen unbewusste Bindungswünsche zu Grunde liegen. Daher kann erfolgreiche Heimerziehung letztlich nur durch Beziehungsarbeit erreicht werden. Denn Heimkinder haben stets mit dem Verlust ihrer primären Bindungspersonen zu leben. Dies beeinflusst ihre Beziehungsfähigkeit, woraus oftmals psychische Anfälligkeit und Unsicherheit resultieren. Deshalb ist es wichtig, dass sie in den Heimen Nähe erfahren und lernen sich auf Bezugspersonen einzulassen und zu verlassen.

 

Können Kinder und Jugendliche im Heim wirklich Nähe erfahren?

Lassen wir doch einen Jugendlichen gleich selbst reden. Kevin! Ich habe mit ihm für die Ausstellung „Verdingkinder reden“ die letzte Woche in Zürich angekommen ist, ein Tondokument zum Thema „Partizipation“ gestaltet. Hier Auszüge davon:

 

Kevin bestätigt es: Das Heim kann niemals das ersetzen, was das Kind, was der Jugendliche sucht, nämlich das fundamentale Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit in der eigenen Familie. Denn auch wenn es im Heim eine Heimat hat, bleibt es immer verhaftet in der Sehnsucht, ein Familienkind sein zu wollen. Das Heim muss sich in aller Bescheidenheit eingestehen, dass es immer an zweiter Stelle steht, dass es im besten Fall höchstens die zweitbeste Lösung für das Kind darstellt. Wichtig ist, dass das Heim, d.h. die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die Lehrer und Lehrerinnen, die Heimleiterinnen und die Heimleiter erkennen, was ihrerseits an Beziehung zum Kind und zum Jugendlichen möglich ist und was umgekehrt an Beziehung vom Kind aus möglich ist. Ein Jugendlicher hat mir mal gesagt, dass er, um zu überleben im Heim, Distanz halten musste. Auch das muss akzeptiert werden.

 

Heimerziehung kann aber trotzdem erfolgreich sein, nämlich dann, wenn sie sich des Widerspruches bewusst ist, in welcher sie steckt. Denn der Auftrag der Heimerziehung besteht zum einen darin, das Heim als ein Zuhause zu organisieren, in dem sich die Kinder und Jugendlichen angenommen und verstanden fühlen. Zum anderen hat das Heim aber als professionelle Organisation den Auftrag, die Probleme der Kinder und Jugendlichen abzubauen und dafür mit dem Herkunftsmilieu zusammenzuarbeiten. Dieser nicht unproblematische, weil teils in sich widersprüchliche Doppelauftrag ist täglich von den Erziehenden einzulösen. Es braucht also Erzieherinnen und Erzieher mit einer „hohen Schwingungsfähigkeit“, wie das an einer Tagung zum Thema „erfolgreiche Erziehung schafft Ordnung in den Köpfen und in den Herzen“ gesagt wurde. Es setzt also Personal voraus, die die emotionalen Signale der Kinder und Jugendlichen bemerken und mit ihrer Persönlichkeit „beantworten“ können. Heimerziehung hat dann eine Chance, erfolgreich auf die Lebensprozesse junger Menschen einzuwirken, wenn die Kinder und Jugendlichen verstehen, was mit ihnen geschieht, wenn Helfer eine demokratische, solidarische und wertschätzende Haltung den Kindern, wie den Eltern gegenüber einnehmen und wenn Erzieherinnen und Erzieher mehr kooperieren als konkurrenzieren, denn „Ohne Partner läuft Heimerziehung ins leere“. 

 

Heimszene:

Nicht wie ich, als 12 Jähriger, an einem schönen Herbsttag schmerzhaft erfahren musste:

Ich sitze hoch oben auf einem Baum und pflücke Äpfel. Da ertönt von weitem die mächtige Stimme des Heimvaters: Sergio, Nase abgäh! Will heissen, ab ins Spital, Mandeln rausschneiden. Doch niemand hatte mich vorgewarnt. Niemand hatte mir erklärt, wie das geht und ob es weh tut. Ich wurde ohne Worte zu verlieren, ins Spital gefahren und für die Operation vorbereitet. Eine Aufmunterung oder gar Trost fehlten. Kurz vor der Operation schlich in die Toilette, schloss mich ein und wartete zitternd auf das was kommen möge. Und plötzlich, ganz langsam, wurde die Türe von Aussen mit einem Dreikant geöffnet und ein kräftiger Pfleger zwängte mich in seine Arme. Die Äthermaske erlöste mich von meiner abgrundtiefen Angst. Noch Jahre später roch ich den Äther in meiner Nase und noch heute begegne ich Ärzten mit grosser Unsicherheit, Angst und schweissnassen Händen.  

 

Zum Schluss:

Was für eine Heimerziehung wünsche ich mir?

  • Eine Heimerziehung, die sich ihrer Grenzen und Möglichkeiten bewusst ist und trotzdem das Beste für die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen herausholt.
  • Eine Heimerziehung, die sich nicht hinter Reglementen und Vorschriften versteckt, die sich nicht irre mache lässt durch ignorante Beamte, sondern die sich mutig vor ihre Kinder und Jugendlichen hinstellt und ihre Interessen laut und deutlich vertritt
  • Eine Heimerziehung, in welcher Menschen Arbeiten, die nebst fachlichem Wissen eine grosse Portion „anthropologische Leidenschaft“ mitbringen. Denn ohne Leidenschaft ist Erziehung nicht möglich
  • Eine Heimerziehung, die vom Staat gestützt, gefördert und getragen wird
  • Eine Heimerziehung, die Mitsprache und Mitentscheidung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zulässt und lebt
  • Und nicht zuletzt eine Heimerziehung mit Kinder- und Jugendgerechten Dienstplänen.


Der Umgang mit fremdplazierten Kindern und Jugendlichen ist eine sehr heikle Angelegenheit. Denn vergessen wir nicht, dass wir es mit verletzten, traumatisierten, von Erwachsenen Menschen enttäuschten  und enthofften jungen Menschen zu tun haben. Was diese Menschen brauchen, sind  moderne Pestalozzis, Korczaks, Makarenkos, mutige Menschen, die nicht nur die Bilanzen, das Kostgeld, und die Belegung im Kopf haben, sondern sich echt dafür einsetzen, dass die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen einmal sagen können; es war schön im Heim! So einfach ist das!