„NIEMANDSKINDER“ Erziehung in den Heimen der Stiftung Gott hilft 1916-2016

08.10.2016 13:57

 

Eine Buchbesprechung von Sergio Devecchi

Nun ist es belegt: Die „Erziehung“ der Gott hilft-Kinder in der Vor- und Nachkriegszeit des 2. Weltkrieges war himmeltraurig. Das pädagogische Konzept lässt sich auf ein einziges Wort reduzieren: „NIEMANDSKINDER“. So hat es der Gründer, Vater Emil Rupflin, gewollt und so wurde es  wortgetreu auch umgesetzt.

 

Auch „Gott hilft“-Kinder hatten blutsverwandte Väter und Mütter, Onkel und Tanten, Geschwister. Sie wurden nicht aus dem Nichts ins Nichts geboren. Es war die Stiftung „Gott hilft“ die diese unschuldigen, meist unehelich geborenen und aus armen Gesellschaftsschichten stammenden Geschöpfe zu „NIEMANDSKINDER“ machte, indem sie ihnen jegliche Verbindung zur Hekunftsfamilie erschwerte, wenn nicht unterband. Denn, von wo sie kamen, da war Sünde. So fühlte man sich legitimiert, diese Kinder aus der Gosse zu retten und Gott zuzuführen, mit harter Arbeit, Beten und züchtiger Erziehung.

 

Ich habe mich in diesem Buch streckenweise wieder erkannt. 17 Jahre habe ich in der „Gott hilft“-Familie verbracht. Viele der Vatti’s und Mutti’s, Onkeln und Tanten, die im Buch portraitiert werden, habe ich persönlich gekannt. Vom Gründer und Patron Emil Rupfli, zu seinem Sohn Samuel und seiner gestrengen Gemahlin Marguerite bis hin zu den vielen Onkeln und Tanten; sie alle haben mein langes HEIMLEBEN gesteuert, beeinflusst und nicht nur zum Guten nachhaltig geprägt.

 

Wenn ich schreibe, ich hätte mich `streckenweise` im Buch wiedergefunden, dann deshalb, weil ich finde, dass gewisse Bereiche nur spärlich ausgeleuchtet wurden. Zum Beispiel fehlen Portraits von Ehemaligen, obwohl noch hunderte von ihnen leben und vielleicht auch leiden. Die mutwillige und von der Stiftung „Gott hilft“ nicht verhinderte Zerstörung der Kinderakten haben die Recherchen der Autorin sicherlich erschwert. Nichtsdestotrotz wäre es ein starkes Zeichen gewesen, den ehemaligen „NIEMANDSKINDER“ im Buch eine Stimme zu geben, auch wenn diese Stimme brüchig, verzweifelt und anklagend gewesen wäre.

 

Das Buch erzählt viel Wahres über den Alltag der damaligen Kinder in den „Gott hilft“-Heimen. Wie sie hart arbeiten mussten, wie sie religiös beeinflusst wurden, wie sie abseits der Gesellschaft aufwachsen mussten. Es erzählt von unmenschlichen Strafen, von Schlägen und Erniedrigungen und es zeichnet auch offen und ehrlich nach, wie schwierig und oft überfordernd der Alltag der „Onkeln und Tanten“ war, die für Gottes Lohn arbeiteten.

 

Was aber fehlt, ist die Art und Weise, wie „Gott hilft“ ihre „NIEMANDSKINDER“ am Ende des Heimaufenthaltes, in der Regel nach der Konfirmation, in die Welt entliess. Viele von ihnen wurden ohne Vorbereitung, ohne Geld und ohne ein vernünftiges Anschlussprogramm  der Gesellschaft, genauer dem Vormund, den sie vorher selten zu Gesicht bekamen, zurückgegeben; einer Gesellschaft, die in den Augen von „Gott hilft“ sündig war und die deshalb den Kindern während ihres Heimaufenthaltes vorenthalten werden musste.

Viele Ehemalige haben dieser schwierigen Herausforderung nicht Stand halten können. Es wäre interessant zu wissen, wie viele von ihnen daran zerbrochen sind. Sei es, indem sie freiwillig aus dem Leben schieden, an einer Sucht erkrankten oder noch heute ein einsames Leben unter ihrer Würde fristen.

 

Während der 1. Weltkrieg tobte, wanderte Emil Rupflin mit seiner Frau Babette, von Deutschland kommend, in die Schweiz ein und gründete in Felsberg (GR) sein erstes Heim. In der Zwischenkriegszeit, mit dem Erstarken des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland, weitete Emil Rupflin sein „Imperium“ aus. Es kamen Heime in Zizers, Chur und Sent hinzu. Während des zweiten Weltkrieges gründete Emil Rupflin den Nieschberg in Appenzell (AR), das Heim in Herrliberg (ZH) und in Pura (TI). Und als der kalte Krieg auch die Schweiz erfasste, folgten weitere Heimgründungen in Trimmis und Scharanz (GR). Die Aufzählung ist nicht vollständig. Doch was ich damit andeuten will ist folgendes: Hatten das Weltgeschehen und  die Umwälzungen in Europa mit den einhergehenden politischen Strömungen einen Einfluss auf das Wirken der „Gott hilft“-Pädagogen auf die Kinder? Heime sind immer ein Spiegel der Gesellschaft. Wie also hat sich die Gesellschaft  in den „Gott hilft“-Heimen gespiegelt? Das Buch nimmt dazu keine Stellung. So als hätte „Gott hilft“ losgelöst und unbeteiligt von allem auf Gottes Wolke gesessen.

 

Zugegeben, das Buch hat auch ins Dunkle der „Gott hilft“-Geschichte geleuchtet und Dinge an die Oberfläche gebracht, die für mich neu waren. Und doch hat mich etwas irritiert: Die ständige Relativierung! Wir wurden geschlagen, aber auch in den Familien wurde geschlagen. Wir mussten hart arbeiten, aber auch die Kinder in den Familien mussten hart arbeiten. Das Essen war karg, aber das Essen war überall karg. So, als hätten die Heimkinder etwas erdulden müssen, was alle Familienkinder damals auch erdulden mussten. Eine Gleichstellung die den bitteren Erfahrungen der Heimkinder nicht standhält und sie verletzt. Denn es waren fremde Onkeln und Tanten, Vatti’s und Mutti’s die sie schlugen und zu schwerer Arbeit zwangen. Die Heimkinder genossen keine schützende Hand einer vielleicht liebenden eigenen Mutter oder Grossmutter und schon gar nicht die schützende Hand des Staates. Der hat auf der ganzen Linie versagt. Doch davon findet man im Buch wenig.

 

Zum Schluss noch ein Wort zu der oben angedeuteten Zerstörung der Akten der „NIEMANDSKINDER“. Das Buch streift das Thema, geht aber nicht in die Tiefe. Die Behauptung der „Gott hilft“-Leitung, sie hätte das des Gesetztes wegen tun müssen, ist öffentlich bekannt. Trotzdem hat es die Autorin nicht für nötig befunden, der Sache gründlicher nachzugehen, obwohl sie wusste, dass der heutige Stiftungsleiter, Daniel Zindel, bei der Beratung für die Sozialdemokraten im Bündnerischen Kantonsrat sass und aktiv am Datenschutzgesetz mitarbeitete. Es wäre doch interessant gewesen zu erfahren, was er und seine Ratskollegen und Kolleginnen damals zu Protokoll gegeben haben und mit welcher Begründung die vielen Menschenakten dem Schreddern zugeführt und so der Geschichte für immer entzogen wurden.

 

Christine Luchsinger

„NIEMANDSKINDER“

Erziehung in den Heimen der Stiftung Gott hilft 1916-2016

Desertina 2016