WAS JETZT NOCH FEHLT

15.09.2018 16:23

Was jetzt noch fehlt

Der Apéro-Riche ist abgeräumt. 

Die Dankesrede der Bundesrätin verhallt. Der Runde Tisch ist Geschichte. 

Historikerinnen und Historiker sind an der Arbeit. Publikationen mit profunden Analysen zum Wie, Wo und Warum der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im 20. Jahrhundert erscheinen. 

Die Politik hat ihre Schuldigkeit getan. Das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen wurde 2014 vom schweizerischen Parlament verabschiedet, wenn auch ohne Anspruch auf Schadenersatz. Drei Jahre später trat das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in Kraft, diesmal verbunden mit einem Solidaritätsbeitrag an die Opfer. 

So weit, so lobenswert.

Aber was nun?

Haben all diese Massnahmen den Opfern ein besseres Leben gebracht? Sind sie selbstbewusster, mutiger, stärker geworden? Sind die Verletzungen verheilt, die ihnen religiöse Eiferer, machtgesteuerte und verblendete Möchtegern-Pädagogen, ausbeuterische Bauern und ein wegschauender Staat zugefügt haben?

Ist jetzt alles gut? Wohl kaum.

Scham und Selbstzuschreibung von Schuld führten dazu, dass die meisten Opfer das schreckliche Erlebte jahrzehntelang tief in sich drin vergruben. Zu schmerzhaft, aufwühlend und angstbesetzt wäre es gewesen, die Büchse der Pandora unkontrolliert zu öffnen. Doch als die Medien immer häufiger über die traurigen Schicksale der Verding- und Heimkinder berichteten, nahmen immer mehr Direktbetroffene allen Mut zusammen und begannen selbst über das ihnen angetane Leid zu erzählen. 

Für kurze Zeit kam Hoffnung auf: Wir werden verstanden. Man lässt uns nicht allein. Die Gesellschaft schien sich tatsächlich mit uns einst kaltherzig ausgegrenzten Heim- und Verdingkindern zu solidarisieren. Auch die 

Archive öffneten ihre Türen und unterstützten die Betroffenen, wo sie konnten - sofern unsere Akten nicht willentlich zerstört worden waren.

Doch jetzt verschwindet das Thema allmählich wieder aus der Öffentlichkeit. Die Medienbeiträge werden weniger, die Schlagzeilen dünner. Und die Frage stellt sich: Was geschieht mit den Betroffenen? Wie leben wir alle weiter? Aus eigener Erfahrung und aus zahlreichen Kontakten mit anderen Opfern weiss ich: bei vielen hat die öffentliche Diskussion dieses dunklen Kapitels schweizerischer Sozialgeschichte Empfindungen traumatisierender Belastungen von früher reaktiviert.

Die Wissenschaft weist nach: viele Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in der Schweiz leiden unter komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie beschreibt dieses vielfältige Beschwerdebild als eine 

besonders schwere langanhaltende Traumatisierung infolge psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalterfahrung, aber auch durch die Erfahrung bzw. emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit. Viele Betroffene erleben sich selbst als hilflos und haben das Gefühl, nur wenig Einfluss auf den Verlauf ihres Lebens nehmen zu können.

In der Regel überschneidet sich die Traumafolgestörung mit anderen psychischen Erkrankungen. Dies führt oft dazu, dass sie lange nicht erkannt wird. Es ist deshalb unerlässlich, dass Betroffene die Behandlung erhalten, die sie benötigen: eine spezifische und qualifizierte Traumatherapie.

Der Psychotraumatologe Andreas Maercker  befragte im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität Zürich ehemalige Verding- und Heimkinder, wie es ihnen heute geht. Die Antworten sind leider wenig überraschend. Viele Betroffene leiden nicht nur unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, sondern auch unter Depressionen. Sie erleben sich als gleichgültig und denken oft an Suizid. Die Forscherinnen und Forscher um Maercker fanden sogar heraus, dass ehemals fremdplatzierte Kinder, die Gewalt und Entwurzelung erfuhren, ein erhöhtes Demenz-Risiko im Alter aufweisen.

Das scheinbar Vergangene, es reicht weit in die Gegenwart hinein. 

Ich half 2013 mit, den Runden Tisch auf Bundesebene anzustossen. Meine eigene Geschichte eines langjährigen Heimlebens mit vielen schlimmen Erlebnissen bewog mich dazu. Auch ich hatte lange geschwiegen. Erst bei meiner Pensionierung fand ich den Mut, mein Schicksal öffentlich zu machen. Ich ahnte intuitiv, dass der Gedenkanlass 2013 in Bern und die öffentliche Bitte um Entschuldigung durch die Landesregierung, vorgetragen von Bundesrätin Sommaruga, bei vielen Opfern das Bedürfnis wecken würde zu reden. Ich schlug deshalb vor, für jede Sprachregion eine niederschwellige Anlaufstelle zu schaffen, die von psychologisch-psychiatrisch geschulten Leuten betreut und in den Anfängen des Aufarbeitungsprozesses für die Opfer vierundzwanzig Stunden am Tag erreichbar sein sollte. Eine Dargebotene Hand speziell für ehemalige Verding- und Heimkinder, Zwangssterilisierte, Zwangsadoptierte und administrativ versorgte Menschen. Ein sicherer Ort, wo sie mit ihren wieder erwachten dunklen Erinnerungen nicht alleine gelassen und wo sie kompetente Beratung erhalten würden. 

Der Vorschlag stiess aus finanziellen Gründen auf Ablehnung. Als Alternative stünden den Betroffenen ja die Opferberatungsstellen in den Kantonen zur Verfügung, hiess es. Rückblickend zeigt sich jedoch, dass die therapeutische Beratung nötig gewesen wäre und immer noch nötig ist. Die Opferberatungsstellen leisteten unbestritten bei der Aktensuche wichtige Arbeit. Die Behandlung von Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen indes gehört in fachliche Hände.

Das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erwähnt die schweren, bis ins Alter nachwirkenden gesundheitlichen Folgen für Betroffene nicht. Wohl weniger aus Ignoranz denn aus finanzpolitischen Überlegungen. Zwar wird vermerkt, dass gemäss Opferhilfegesetz Anspruch auf Hilfe und Entschädigung besteht. Konkrete Hinweise, die den Opfern das Recht geben, bei posttraumatischer Belastungsstörung therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, fehlen jedoch. Das hätte das Budget des durch den Bund eingerichteten Solidaritätsfonds wohl gesprengt. 

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die offizielle Schweiz hat zwar die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen um Entschuldigung gebeten. Sie zahlt als Wiedergutmachung einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken pro Person – sofern jemand den eigenen Opferstatus glaubhaft darstellen kann.

Hingegen scheinen die politischen Repräsentanten nicht bereit, eine längerfristige und tiefergehende Hilfe durch geeignete Therapien bereitzustellen und zu finanzieren. Dabei stünden in unserem Land genügend kompetente Fachkräfte mit Erfahrung bei der Behandlung von Trauma-Folgestörungen zur Verfügung. Kommt dazu: Auch die Mittel wären vorhanden, wie wir heute wissen. Viele Betroffene, die Anspruch auf den Solidaritätsbeitrag hatten, verzichteten darauf, ein Gesuch zu stellen. Unter anderem, weil sie es nicht ertragen würden, nochmals mit der schmerzlichen Vergangenheit konfrontiert zu werden. Wie bezeichnend!

Das bedeutet aber: der vom Parlament bewilligte Betrag von 300 Millionen Franken wird nur zu zwei Dritteln ausgeschöpft. Der ungenutzte Betrag soll in die Bundeskasse zurückfliessen. So will es das Gesetz.

Oder vielleicht doch nicht? Gesetze sind nicht in Stein gemeisselt. Das Parlament kann das Gesetz ändern. Es braucht nur den politischen Willen dazu. Den Willen, die Opfer mit ihren zum Teil schweren gesundheitlichen Problemen nicht allein zu lassen. Das würde die Aufarbeitung einen weiteren wichtigen Schritt voranbringen.